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Pädagogischer Eros und Päderastie

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Es ist gut, dass jetzt auch – wieder – über die Fälle von sexuellem Missbrauch an der Odenwaldschule gesprochen wird. Denn angesichts der täglich neuen Offenbarungen über Päderasten und Sadisten im kirchlichen Dienst könnte man zur falschen Ansicht gelangen, das Phänomen der „Unzucht mit Abhängigen“ sei allein ein Problem perverser Priester.

Dem ist nicht so. Ständig wurden und werden die Grenzen zwischen pädagogischem Eros und Päderastie überschritten – in kirchlichen, privaten und staatlichen Heimen, Schulen, Sportvereinen und anderen Institutionen.

Über die Zustände an der Odenwaldschule in den 1970er und 1980er Jahren sagen ehemalige Schüler und Schülerinnen jetzt: „Jeder hat es gewusst“. Gesagt haben nur wenige etwas, herausgekommen ist noch weniger. Über die Zustände in den heutigen Heimen und Schulen weiß auch jeder, der damit etwas zu tun hat oder hatte, etwas zu berichten. Und auch da sagen nur wenige etwas, kommt noch weniger heraus.

Vorweg: mir geht es nicht darum, die katholische Kirche aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Sie steht zu Recht im Zentrum der Kritik – nicht nur wegen der Ausmaße der nun bekannt werdenden Fälle (die immer noch nur die Spitze des Eisbergs darstellen); nicht nur wegen der Kultur des Wegsehens, Verschweigens und Vertuschens; nicht nur wegen der vielfältigen Vereitelung strafrechtlicher Verfolgung; sondern vor allem wegen der ungeheuerlichen Bigotterie einer Institution, die jeden Splitter im Auge des anderen kritisiert, aber den Balken im eigenen Auge nicht sehen wollte und bis heute teilweise nicht sehen will.

Aber die Vorfälle an der Odenwaldschule – auch sie nur die Spitze eines Eisbergs – zeigen, dass die Diskussion über den Zölibat und die Tabuisierung der Homosexualität – ja der Sexualität überhaupt – in der katholischen Kirche Gefahr läuft, in selbstgerechter Blindheit zu verharren. An der Odenwaldschule war die Sexualität in den 1970er und 1980er Jahren ganz gewiss nicht tabuisiert; die Lehrer waren ganz gewiss nicht zum Zölibat gezwungen, und in mindestens einem Fall, von dem mir ehemalige Schüler berichtet haben, war der Täter, der auf Schulausflügen Mädchen zum Strip-Poker animierte und Jungen mit Streicheleien an den Genitalien bedrängte, ein nach außen hin „normaler“ Familienvater.  In zwei anderen Fällen handelte es sich um Homosexuelle, die ihre Neigung an der Schule nicht verstecken mussten und nicht versteckt haben. Übrigens schilderte Klaus Mann, selbst Zögling des Internats, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg den Internatsgründer Paul Geheeb als bisexuellen Päderasten.

Auch die Bigotterie ist kein Alleinbesitz der katholischen Kirche. Der frühere Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, der nur deshalb dem Gefängnis entging, weil seine Taten  zum Zeitpunkt ihrer Aufdeckung verjährt waren, ist studierter evangelischer Theologe und war lange nach Bekanntwerden der Zustände in seiner Odenwald-„Familie“ ein gern gesehener Redner bei kirchlichen Veranstaltungen zum Thema „Ethik und Erziehung“.

Und was Verschweigen und Vertuschen angeht: die Beziehungen zwischen Gerold Becker, seinem Lebensgefährten Hartmut von Hentig und anderen führenden Reformpädagogen der Bundesrepublik, die entweder aus dem homoerotisch geprägten George-Kreis stammten oder zum erweiterten Netwerk dieses Kreises gehörten, sorgten dafür, dass Ausmaß und Folgen der ständigen Grenzüberschreitung zwischen pädagogischem Eros und Päderastie nie thematisiert wurden.

Wenn nicht die gesamte Reformpädagogik, in den Strudel dieser Affäre gezogen werden soll, was einige konservative Pädagogen sehr gern sähen, müssen die Aktivitäten jenes „Netzwerks von Päderasten“ um Gerold Becker, von dem ehemalige Schüler sprechen, und jener Freunde und Förderer, die wider besseres Wissen das Treiben des Netzwerks gedeckt haben, von den betroffenen Institutionen und Personen selbst aufgedeckt werden.

Freilich haben einige gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Zeit dazu beigetragen, dass diese Aufklärung schwierig wird. Der Schwulenbewegung ist es – erstens – gelungen, den Homosexuellen generell eine Art Opferstatus  zu verschaffen, so dass jede Kritik an einzelnen Homosexuellen als Ausdruck von Homophobie erscheint. Nun gibt es unbestritten Homophobie in der Gesellschaft, sie wird etwa vom deutschen Papst offensiv vertreten. Sie gilt dennoch unter aufgeklärten Menschen als nicht gesellschaftsfähig, und das ist auch gut so. Sie muss genauso geächtet werden wie der Antisemitismus oder andere Formen der Diskriminierung von Minderheiten. Aber ein homosexueller Päderast ist eben ein Päderast.

Zweitens hat in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren die Frauenbewegung das Ausmaß der sexuellen Übergriffe auf Mädchen und junge Frauen, vor allem in der Familie, bewusst gemacht, so dass auch Mädchen generell eine Art Opferstatus innehaben. Früher hieß es: tragen sie einen Minirock, werden sie von Männern dazu gezwungen. Heute heißt es: tragen sie ein Kopftuch, werden sie von Männern dazu gezwungen. Dass junge Männer – künftige Patriarchen – ihrerseits Opfer sexueller Übergriffe sein könnten, und dies obendrein durch Individuen aus der Opfergruppe der Homosexuellen, passte nicht in den feministischen Opferdiskurs, der jeden Penisträger als potenziellen Vergewaltiger verdächtigte.

Und drittens sind ja nicht alle Opfer im gleichen Maße Opfer. Schüler an der Odenwaldschule berichten, wie Gerold Beckers Lieblinge ihre erotische Macht über ihn ausnutzten, straflos seine Küche verwüsteten, sein Auto zu Schrott fuhren und so weiter. Fast jeder männliche Lehrer kann davon berichten, wie weibliche Schülerinnen ihre erotische Macht einsetzen, um bessere Zensuren zu bekommen.

Die Schule ist ein zutiefst erotisierter Raum. Dies gilt umso mehr für Internate und ähnliche Einrichtungen, was nicht gegen sie spricht. Pädagogik ist überdies ohne ein gewisses Maß an Eros nicht denkbar. Dieses Eros, ob homo- oder heterosexuell, in den Dienst der Menschenbildung zu stellen, ist eine der großen Herausforderungen der Pädagogik. Wer es schlicht verneint und verdrängt, wie es die katholische Kirche offiziell jedenfalls tut, fördert die Perversion. Wer ihm aber einfach nachgibt, wie es einige Reformpädagogen – und nicht nur sie – getan haben und wohl noch tun, pervertiert die Erziehung nicht minder. Wir sind – trotz „68“ und dem Versuch, die Sexualität aus der Zone des Schmuddeligen und Verschwiegenen herauszuholen – noch weit entfernt von einer öffentlichen Diskussion, die diesen Fragen ohne Tabuisierung und Skandalisierung nachgeht.


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